Raum und Zeit: Brustkrebs-Screening: Ein Glücksspiel mit mehr Verliererinnen

Der Artikel "Brustkrebs-Screening: Ein Glücksspiel mit mehr Verliererinnen" aus der Zeitschrift Raum & Zeit (Ausgabe 84/96) gibt Auszüge des Vortrags von Dr. med. Johannes G. Schmidt, Einsiedeln, Schweiz, den der Autor am 29. Juni 1996 auf der Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe hielt. Der Vortrag prangert die längst überfällige Diskussion der Ärzte untereinander, der Ärzte mit der Gesundheitsbürokratie, der Ärzte mit den Patienten/innen, der Politiker mit den Ärzten, der Patienten mit den Politikern usw. an. Nach Dr. Schmidt stehe Brustkrebs-Sreening exemplarisch für die Sinnlosigkeit einer "neuen Theologie der Absicherungsmedizin".

Im ersten Teil des Vortrags hinterfragt Dr. Schmidt die absolute Bösartigkeit der Brustkrebs-Erkrankung. Nur ein Drittel aller Brustkrebs-Erkrankung, verlaufe tödlich. Anhand einer Vielzahl statistischer Daten zeigt er auf, daß die "Bösartigkeit" und "Todesbedrohung", die mit Brustkrebs verbunden sei, ein übersteigerter Trugschluß sei. Nur durch die Mammographie könnten histologisch maligne Veränderungen entdeckt werden, die klinisch gutartig seien und lebenslänglich niemals zu Problemen geführt hätten. Er setzt die These auf, daß "dem Nutzen der Früherkennung der Nutzen der Späterkennung" gegenüberstehe: "Frauen mit lebenslang klinisch stummen Brust-Malignom fahren sicher am besten, wenn sie gar nie zu Brustkrebs-Patientinnen gemacht werden."

Dr. Schmidt weist im folgenden darauf hin, daß die Brust nicht unmittelbar durch den Brustkebs, sondern durch die chirurgische Behandlung zerstört würde. Die Brustoperation habe die "Qualität einer radikalen Inquisition gegen das Böse ale einer durch wissenschaftliche Evidenz und sorgfältige Beobachtung gestützte Vorgehensweise." Er betont, daß "das Bild des Brustkrebses als lokale Brusterkrankung" einer falschen Vorstellung entspräche. Der Autor räumt jedoch ein, daß die Früherkennung in gewissem Maße eine Brustkrebs-Mortalitätsreduktion bewirke. In diesem Zusammenhang differenziert er Brustkrebserkrankungen in drei Gruppen:

  1. Primär gestreut wachsende Brustkrebse, deren Aggressiviät auch durch eine frühzeitige Therapie nicht gestoppt werden könnte
  2. Klinisch gutartige Brustkrebse, die durch Brustkrebs-Screening, die Patientinnen unnötig in Panik versetzten
  3. Brustkrebs mit überwiegend lokoregionärer Ausbreitung der Tumormasse. Nur diese Brustkrebse könnten überhaupt durch Früherkennung beeinflusst werden.

Vor diesem Hintergrund bringe deshalb eine "Späterkennung" mehr Glück als die Früherkennung, dennoch könne in einigen besonderen Fällen die Früherkennung die Rettung sein.

Die ersten Früherkennungsstudien in den achziger Jahren seien augenscheinlich sehr überzeugend gewesen. Einige Studien zeigten eine relative Brustkrebsmortalitäts-Reduktion zwischen 31 und 70 %. Diese beträchtliche Reduktionsquote sei aber nicht ohne Vorbehalte zu betrachten:

Durch die methologischen Fortschritte in der Evidenz-Beurteilung würden diese Studien "aussagelos". Weiterhin könnten bei einem Screnning schnellwachsende Karziome nicht vollständig erfaßt werden. Die Mammographie sei damit teilweise "irreführend und aussagelos".

Im nächsten Teil des Vortrag stellt Dr. Schmidt Effizienz und Nutzen des Brustkrebs-Screening vermehrt in Frage. Statistisch gesehen bewirke Brustkrebs-Screening in der Altersgruppe zwischen 50 und 70 Jahren eine Reduktion der Brustkrebs-Sterberate von nahezu 30%. Dr. Schmidt entkräftet diese Quote mit folgender Argumentation: "Würde eine Frau zum Beispiel auf das Autofahren verzichten, könnte sich ihr Sterberisiko um rund viermal mehr senken als mit einer Teilnahme am Brustkrebs-Screening. Dieses vermeidbare Unfall-Sterberisiko bei regelmäßiger Autobenutzung wird indessen ohne weiteres in Kauf genommen und ist nicht Gegenstand von Befürchtungen und Präventionsdiskussionen." Dr. Schmidt weist daruf hin, daß der Vergleich zwischen Krebstod und Unfalltod natürlich "hinkt", sondern lediglich einen Anhaltspuntk geben soll. Sinnvoll sei eher die Gegenüberstellung zwischen "erwünschter und unerwünschter Wirkungen". Die Entscheidung für oder gegen das Brustkrebs-Screening sei keine medizinische, sondern eine gesellschaftlich bzw. weltanschauliche Frage. Auch die Medizin müsse sich der intellekuellen Diskussion stellen: "Man kann den panischen Wunsch nach unaufgeklärter Mystifizierung der Absolutionsmacht moderner Diagnose-Machinen als legitime Meinungsfreiheit anerkennen; für die Aufgabe der Medizin ist eine intellektuelle Diskussion hingegen aunverzichtbar, die anfängt, solche kollektiven Täuschungen von wirklichen Fachkenntnissen, die uns weiterführen, zu unterscheiden."

Aber auch die Mammographie können den Wunsch der "panischen Moderne" nach absoluter Sicherheit nicht befriedigen. Utility-Analysen - d. h. Befragungen repäsentativer Gruppen über die Bewertung von Vor- und Nachteilen können die Entscheidungsfindung transparenter machen.

Abschließend hinterfragt Dr. Schmidt die Innovationen der modernen Krebsforschung. Seiner Meinung nach sei die Krebszelle als Krankheits-Agens nicht unbedingt der entscheidende Faktor im Krankheitsgeschehen. Das soziale und vor allem emotionale Umfeld habe wesentlich größeren Einfluß auf das Überleben von Brustkrebspatientinnen. Denn allein durch die Stärkung der Abwehrkraft könne der Krebs in die Kniehe gezwungen werden.